Montag, 21. April 2014

Wahrheit ist eine praktische Kategorie.


Rainer Sturm  / pixelio.de

Anders als die Gesetze der Geometrie ist die Annahme einer Wahrheit als konstitutivem Grund aller wahren Sätze nicht evident

Wer sagt, er könne die Sätze des Pythagoras nicht einsehen, der ist von Sinnen oder er will nicht. Dass 'es Wahrheit gibt', bestreiten dagegen viele, heute wie gestern. Es gebe nur Wahrheiten, nicht als eine Ganzheit, sondern ein möglicherweise endloses Neben- und Miteinander einzelner wahrer Sätze. Das mag man so einsichtig finden wie das Gegenteil, und der pragmatisch-skeptizistischen Grundstimmung der realen Wissenschaften liegt es heute sogar näher.

Dagegen kann man einwenden, dass allen Wahrheitsatomen dann immerhin diese eine Qualität gemeinsam wäre: wahr zu sein (oder richtig oder zutreffend oder wie immer man es nennen will). Das ist aber Ergebnis einer Reflexion aus vorab bestimmten Begriffe, und eben nicht unmittelbar einleuchtend.

Und es ist "bloß ein Gedanke", von dem keiner sagen kann, ob ihm in der Wirklichkeit etwas entspricht...

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Nun wäre Wahrheit, ob es sie nun gibt oder nicht, keine Qualität des Wirklichen. Was ist, ist, und ist so, wie es ist. Es ist zwar richtig, dass 'es' die Qualitäten der Objekte nur 'gibt' als Antworten auf die Fragen, die Subjekte ihnen stellen. Ob sie antworten, liegt im Subjekt. Aber dass sie mit ja oder nein antworten, liegt daran, dass sie so oder so sind. 


Wahrheit ist keine Eigenschaft des Seienden. Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, und die sind zunächst 'bloß ein Gedanke'. Wahr ist ein Satz, der gilt. Wenn er nur unter Bedingungen gilt, ist er nur bedingt wahr. Wenn er ohne Bedingungen gilt, ist er unbedingt wahr. Und das kann man denken. Gibt es mehrere Sätze, die unbedingt gelten, dann 'gibt es' die Qualität des Unbedingtgeltens.

Sätze über Erscheinungen in Raum und Zeit, vulgo in der Wirklichkeit, stehen unter den Bedingungen von Raum und Zeit. Dass sie unbedingt gelten könnten, wäre ein Widersinn.

In den Realwissenschaften kann es die Wahrheit nicht geben. Da reicht die Annahme einer Menge von einzelnen Wahrheitsatomen völlig aus, und da sie in Raum und Zeit bedingt sind, sind sie nur vorläufig. Mehr anzunehmen untergrübe die Wissenschaft.

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Fichte betrieb nicht Realwissenschaft, sondern Wissenschaftslehre. Dass er sie auf einem Zirkel begründen musste, hat er den Skeptikern, die damals so in Mode waren wie heute, freimütig eingeräumt:

"Ueber diesen Cirkel hat man nun nicht Ursache betreten zu seyn. Verlangen, dass er gehoben werde, heisst verlangen,dass alles menschliche Wissen nur bedingt seyn, und dass kein Satz an sich, sondern jeder nur unter der Bedingung gelten solle, dass derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit einem Worte, es heisst behaupten, dass es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird."*

So muss, wer an die realen Wissenschaften mit dem Maßstab der formalen Logik heranginge, zugeben, dass auch sie 'vorübergehend' davon ausgehen muss, dass das, was jetzt gilt, gilt. Doch die Prämisse beruht auf einem Zirkel und gilt selber daher nur problematisch. In den reellen, 'theoretischen' Wissenschaften ist das kein wirklicher Mangel, denn der Wert ihrer Sätzen wird nicht an der Wahrheit gemessen, sondern daran, ob sie sich - technologisch oder forschungspraktisch - bewähren. Solange sie das tun, schadet es nichts, sie so anzusehen, als ob sie wahr wären - denn daran liegt nichts. Ob es "etwas gibt, wodurch sie vermittelt werden", muss sie nicht kümmern; Realwissenschaft ist nur vorläufig.

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Ob es 'Geltung überhaupt' gibt, die nicht durch (wechselnde) Umstände von Raum und Zeit bedingt ist, wird zu einer Frage überhaupt nur für einen, dem es darum geht, sein Leben zu führen. Darf, kann, muss er das nach Lust und Laune tun, oder gibt es etwas, woran er sich halten soll? - Die Frage nach der Wahrheit ist ein praktisches Problem; von Evidenz ist keine Spur.
 


*) J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, SW Bd. I, S. 62






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