Freitag, 4. September 2015

IX. Aus der Nische in die Welt, oder: Warum die Menschen aufrecht gehen.

 

Leben ist für die Wissenschaft gleich Stoffwechsel plus Fortpflanzung. Allein, der Mensch kann sich unter allen Kreaturen nicht damit begnügen. Weil er nicht mehr in einer geschlossenen Umwelt zu Hause ist, die ihm seine Bestimmung vorgibt, sondern in einer offenen Welt, wo er sein Leben führen muss – und das ist ein Problem. Nur weil er es hat, sagt er “ich”. Es ist die Conditio humana selbst und liegt offenbar jenseits der Naturwissenschaft. 

Die Welt ist nicht ‚alles, was der Fall ist’. Sie ist ein Tableau von Bedeutungen, die von den Generationen, die vor uns waren, festgehalten und zu einem “Symbolnetz” (Ernst Cassirer) geknüpft wurden. Darum nehmen wir gar keine ‘Dinge’ wahr, sondern immer nur ‘das, was sie bedeuten’. Die Abstraktion davon: die Frage nach dem Ding, wie es ‘an sich ist’, gehört nicht zum natürlichen Bewusstsein, sondern schon zur Wissenschaft. Die Welt ist gattungsgeschichtlich definiert als der Raum, in den ich fragend blicke: ob sie mir einen Anhaltspunkt gibt für meine Lebensführung? Ich rechne vorab auf eine Bedeutung, und daher treffe ich meistens eine an.

Das ist eine Dimension, die sich der Mensch selbst verschafft hat – mit dem Kopf. Doch auch das Tier lebt nicht in einer Welt, die ‘der Fall ist’, sondern in Bedeutungen. Evolution ist Auslese und Anpassung. Im Laufe ihrer Geschichte hat jede Spezies ihre ökologische Nische gefunden und hat sie zu ihrer Umwelt eingerichtet. Jede tierische Umwelt bildet nach Jakob von Uexküll, dem Begründer des biologischen Umwelt-Begriffs, “eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird. Alles und jedes, das in den Bann einer Umwelt gerät, wird umgestimmt und umgeformt, bis es zu einem brauchbaren Bedeutungsträger geworden ist – oder es wird völlig vernachlässigt.” 

Was die Dinge seiner Umwelt dem Tier bedeuten, “versteht sich von selbst” – da muss es das Tier nicht auch noch verstehen. Die Gattung und ihre Umwelt sind gewissermaßen durch Vererbung miteinander verwandt. Dem Menschen werden die Bedeutungen der Dinge durch Symbole mitgeteilt, die ihm von andern Menschen überliefert wurden: Deren Bedeutungen muss er jedesmal wieder selber realisieren, nämlich verstehen.
  
Die Bedeutungen tierischer Umwelten haben freilich einen gemeinsamen Nenner: Sie sind Funktionen der Erhaltung – der Individuen wie der Art. Was keinen Erhaltungswert hat, kommt in ihnen, wenn es auch ‘da’ ist, buchstäblich nicht vor. Der Mensch hat vor Jahrmillionen seine Urwaldnische verlassen und ist aus der ererbten Umwelt in eine fremde Welt aufgebrochen. Deren Bedeu- tungen waren nicht ererbt; er mußte sie selber heraus-, d. h. hineinfinden: Ihm kann alles bedeutsam werden. Und die Bedeutung ist, seit er einmal dem Überfluß begegnet war, nicht mehr auf den Erhaltungswert beschränkt: Jedes kann ihm Vieles bedeuten, und er kann sich sogar selber fraglich werden. Bedeutung: das ist dasjenige ‘an’ den Dingen, das zum Bestimmungsgrund für mein Handeln werden könnte; mich veranlassen kann, mein Leben so oder anders zu führen. Die Bedeutung eines Dinges feststellen heißt urteilen. “Der Mensch muß urteilen” und “der Mensch muß handeln” bedeuten dasselbe. Handeln heißt nicht bloß ‚etwas tun’ (das tut das Tier auch), sondern: einen Grund dafür haben. 

Natürlich kann der Erhaltungswert einer Sache für mich zu einem Urteilsgrund werden. Aber er muss nicht. Der Mensch kann Nein sagen. Kritik, wie Krisis, kommt von gr. krínein, entscheiden. Der Mensch ist das kritische Tier, das Wesen, das allezeit urteilt, weil es sich stets entscheiden muss. Die Erscheinungen, zu denen er -, die Situationen, in denen er Ja oder Nein sagen muß, erheischen Maßstäbe: Bedeutungen, unter sie er sie fassen kann.

Die hat er im Laufe seiner Geschichte in Symbolen fixiert und in ein Repertoire gefügt, wo sie ihm vorrätig sind. Jetzt sieht es so aus, als seien die Bedeutungen vor den Dingen da. Die symbolische Form verleiht ihnen einen Anschein von Dauer und Wahrheit, die ihnen doch nur zukommen, wenn und inwiefern sie in realen Situationen je aktualisiert werden: im handelnden Urteil. Und dann ist es “so, als ob” er sie jedesmal neu erfunden hätte. Denn er hätte, wohlgemerkt, auch Nein sagen können. Natürliche Umwelten sind geschlossen, aber eine Welt ist offen; jene sind begrenzt, aber sie ist unendlich, denn ihre Grenzen finden ihre Bedeutung erst durch das, was dahinter liegt; jene sind vertraut, aber sie ist fremd und bunt; jene sind sicher, aber sie ist Lockung und Gefahr zugleich. Sie ist überhaupt keine “Gegend”, sondern bloß ihr Horizont. 

Wie ist er dahin gelangt? Durch seinen aufrechten Gang. Als er nämlich seine herkömmliche Nische auf den Bäumen verließ, nein: als vielmehr der Klimawandel im ostafrika- nischen Graben den Regenwald in eine feuchte Parksavanne zersetzte. Während einige unserer Vorfahren sich mit dem angestammten Urwald zurückzogen, vielleicht überlegenen Konkurrenten weichend – da wagte er sich ins offene Feld hinaus, wo er Überblick brauchte und größere Behendigkeit, denn jene Savanne war nicht eine Nische, sondern ein unzusammenhängender Flickenteppich aus vielen verschiedenen Lebensräumen, zwischen denen er seither ständig unterwegs ist. Spezialisierung auf einen unspezifischen Lebensraum heißt aber Entspezialisierung. Er wurde zum Ausreißer, zum Vaganten. Der Normalzustand, für den er sich zurichten mußte, war der Wechsel. Er entschied sich fürs Ungewisse. 
  
Mit dem Ausbruch in die Welt ist der Mensch über die Naturgeschichte hinaus in seine eigene Geschichte eingetreten. Nicht, dass seine Naturgeschichte damit abgeschlossen wäre – sie ging überhaupt erst richtig los. Aber auch sie macht er seither selber.
  


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