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JE
aus DIE ZEIT Nº 20/2012, Aktualisiert 19. Mai 2012
J. G. Fichte
Ich, das Absolute
Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Johann Gottlieb Fichte geboren. Es lohnt, den riskanten Klassiker wiederzuentdecken.
Die Akte "Johann Gottlieb Fichte" kann, nachdem sie vor 250 Jahren am
19. Mai 1762 mit dessen Geburt in Rammenau eröffnet wurde,
nunmehr geschlossen werden – jedenfalls dann, wenn es nach dem in
Boston lehrenden Philosophiehistoriker Manfred Kühn geht. Der zu
Recht viel gelobte Biograf Immanuel Kants fällt am Ende seiner neuen
Studie folgenden Richterspruch: "Das Urteil der Geschichte ist
eindeutig: Fichte hatte einen unheilvollen Einfluss auf die
deutsche Geschichte. Allen Beschönigungsversuchen zum Trotz muss er als
einer der Vorväter zum unseligen deutschen Nationalismus gelten
und spielt damit auch eine Rolle in der Entstehung des
Nationalsozialismus." Bei allem Talent, das Fichte gehabt habe: Mehr als
die Rolle des "Vermittlers zwischen Kant und Hegel" und eine
"hervorragende Inspiration für Romantiker und Transzendentalisten"
könne ihm nicht zugestanden werden. Das ist eindeutig. Aber ist
es auch richtig?
Bevor man diese Frage beantwortet, sollte man auf die Fakten schauen.
Fichtes Werke und Korrespondenzen umfassen in der kritischen Edition
der Bayerischen Akademie der Wissenschaft 42 Bände. Zudem wurden in
separaten Veröffentlichungen zeitgenössische Besprechungen und
Kommentare zugänglich gemacht. Die im Verlag Frommann-Holzboog
erschienenen Schriften stellen nicht nur ein Dokument herausragender
Editionsphilologie dar, sondern liefern tatsächlich das erste Gesamtbild
eines deutschen Klassikers im 18. und 19. Jahrhundert. Gewiss, das ist
keine Totalrevision des Fichte-Bildes in der Ideengeschichte, doch damit
werden erst mal die Besonderheiten seines Leben-Werk-Zusammenhanges
umfassend wahrnehmbar.
Dass dem jungen Fichte der Aufstieg aus dem Bandweber-Milieu in
der Oberlausitz an die Bildungsanstalt Schulpforta gelingt, ist zunächst
nichts Besonderes. Er studiert Theologie und erleidet die üblichen
Qualen eines Hofmeisters, die ihn nach Leipzig, Zürich, Warschau und an
andere Orte treiben. Als Fichte dann 1792 den
Versuch einer Kritik aller Offenbarung
anonym veröffentlicht (und man kurze Zeit Kant für den Autor
hält), scheint der erste Schritt in die bürgerliche Gelehrtenexistenz
getan. Im Jahr darauf heiratet er Johanne Rahn, alles scheint in
geordnete Bahnen überzugehen.
Doch Fichte entwickelt früh einen merkwürdigen Eigensinn, der
sich weder durch die Wechselfälle seines Lebens noch durch seinen
Charakter erklären lässt. Denn wie soll man Fichtes Unterstützung der
Französischen Revolution (1793), seine grundstürzende Transformation der
Kantischen Vernunftkritik in der
Wissenschaftslehre
(1794/95) und schließlich den "Streit" über die Bedeutung von
Religion und Atheismus – wie soll man all das als Werk ein und desselben
Autors verstehen?
Aber das ist nur der Anfang. Mit größter Aufmerksamkeit beobachtet Fichte die Bewegungen in Literatur,
Philosophie
,
Theologie
und Staatswissenschaften und verknüpft sie mit
realgeschichtlichen Umbrüchen seiner Zeit. Dabei entsteht eine Vielzahl
sogenannter populärwissenschaftlicher Schriften, die sich an ein
gebildetes Publikum wenden. Zudem schreibt Fichte seine
Wissenschaftslehre
fort, um sie 1804 letztmalig der Öffentlichkeit vorzustellen.
Dabei nimmt er die Herausforderungen an, die sich durch Schellings
Systementwürfe, die unter dem Stichwort "Naturphilosophie" auftraten,
ergeben haben.
Damit nicht genug. Fichte machte sich daran, die beiden Sphären von
"Wissenschaftslehre" und "populären" Gegenwartsanalysen miteinander zu
verbinden. In einem 1807 veröffentlichten Aufsatz über Machiavelli
verschob er kunstvoll seine Geschichtsphilosophie in die Richtung eines
neuen Verständnisses der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, beide
bildeten fortan eine denknotwendige Einheit für ihn. Für Fichte lautete
die entscheidende Frage, wie die Philosophie ihre Verantwortung
gegenüber dem Einzelnen, der Gesellschaft und der Menschheit wahrnehmen
und sich ihnen gegenüber rechtfertigen kann. Philosophie versteht sich
für Fichte nicht von selbst. Man kann sie nicht einfach erlernen,
sondern sie verdankt sich, wie bei Plato, einer "Erleuchtung". Damit hob
Fichte die Philosophie, oder wie er sagte: die "Wissenschaftslehre",
allerdings in problematische metaphysische Höhen. Er machte sie zu einem
Hochrisikoprojekt, dessen mögliches Scheitern im Moment des Denkens
reflektiert werden muss.
Dieses uns heute fremd erscheinende Unterfangen vollzog sich inmitten
aufregender Kontroversen. Fichte stand in einer Konstellation, deren
verwirrende Vielschichtigkeit uns auch heute noch Rätsel aufgibt.
Zwischen Weimar, Jena, Berlin, Königsberg, Göttingen und vielen anderen
Orten gehen Briefe, Traktate, Bücher hin und her; ihre Autoren schauen
parallel auf das Absolute und auf Napoleon, auf das Paradox, das
Fragment und auf Gott. Die Deutungskonkurrenzen entzünden sich dabei
stets am Höchsten, Prinzipiellen, auch die sogenannten "Vermittler"
können ihre eigenen Interessenlagen im Kampf um die Wahrheit nicht
verbergen.
Seite 2/2:
Fichte war ausdrücklich ein Kind seiner Zeit
Fichte spielte damals ein raffiniertes Spiel mit der
Öffentlichkeit. Er ließ seine metaphilosophischen Überlegungen als
"ungeschriebene Lehre" nur unter Studenten kursieren und lieferte
gleichzeitig ununterbrochen Kostproben seiner Gegenwartsanalysen. Wie er
dabei Philosophie und Gegenwartsanalyse zusammenbrachte, das versetzte
bereits die Zeitgenossen in Rage. Doch Wolfgang Janke hat in seinem
wichtigen Buch
Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus
(2009) gezeigt, dass Fichte damit die entscheidende Alternative
zu den Systemen Hegels und Schellings formulierte – von bloßer
"Vermittlung" kann also keine Rede sein. Und so wird Fichte bis zu
seinem Tod im Januar 1814 in Berlin zwanzig Jahre lang an einer neuen
Idee von Philosophie gearbeitet haben, einer Philosophie, die sich als
eine umfassend begründete Kenntnis von Ich und Welt verstand.
Bei allem Vorbehalt: Man muss all diese von Kant bis Schopenhauer
sich ablösenden, transzendentalphilosophischen, romantischen und
letztlich mystischen Gedankengebäude zumindest für einen Moment ernst
nehmen; man sollte den ungeheuerlichen Variationsreichtum
intellektueller Fantasie nicht sogleich als weltfremde Hybris verwerfen,
sondern sie als Ringen mit den Zeitläuften mitsamt ihren Abgründen als
ungeheure Umwälzung erkennen. Und mag man die Beteiligten als
"heroische" oder "wilde" Denker ruhigstellen wollen, ihren
Provokationen, die vor keinerlei Schranken und Gesetzen haltmachen,
entkommt man damit nicht. Vielmehr muss man sich eingestehen, dass ein
Ordnungsschema, geschweige denn eine angemessene rekonstruierende
Sprache für die Abenteuer des Geistes, bislang noch nicht gefunden
wurde. Aber immerhin: Einen Wegweiser durch Fichtes Positionendschungel
haben jetzt Walter Jaeschke und Andreas Arndt vorgelegt. Es ist eine
Studie, die in ihrer Konzentration auf die Debatten um den
"System"-Begriff einen lebendigen Eindruck von den längst nicht
erledigten Fragen und Antworten der Reinholds, Schlegels, Maimons und
all der anderen vermittelt.
Fichte, dies bleibt festzuhalten, war ausdrücklich ein Kind
seiner Zeit und konnte sich doch nicht damit beruhigen, von aller
transhistorischen Wahrheit abgeschnitten zu sein. Schon damals hat man
sich über seine Mischung aus Weltbezogenheit und Weltfremdheit gewundert
und zugleich die spekulative Kraft gelobt, die sich zunächst an einem
absoluten, später dann relativen "Ich" entzündete. Seine herablassenden
Urteile über andere Philosophen hat man allerdings schon damals nicht
verstanden. Vor allem an den
Reden zur deutschen Nation
von 1807/08 entzünden sich bis heute Diskussionen. Sind diese
Schriften letztlich, wie andere Äußerungen über Juden, Teil eines
Antisemitismus, der im Vernunftbegriff liegt? Oder, wie Manfred Kühn
sogar meint, ein Fingerzeig hin zum nationalsozialistischen "Generalplan
Ost"? Oder doch in allererster Linie Teil eines nur schattenhaft
bekannten, komplexen philosophisch-rhetorischen Werkes, in dem
gelegentlicher krasser Nationalismus und Kosmopolitismus untrennbar
nebeneinander stehen? Von einem eindeutigen Urteil, gefällt gar von der
"Geschichte", kann keine Rede sein, und die Werkedition stellt hier alle
vor neue Herausforderungen.
Aber man sollte trotzdem – oder jetzt erst recht – Kühns Buch lesen,
das trotz einer gelegentlich auf die Nerven gehenden Nörgelei sicherlich
die autoritative Fichte-Biografie in deutscher Sprache darstellt. Am
besten tut man es zusammen mit dem solide informierenden Buch des
bedeutenden Idealismus-Forschers Wilhelm G. Jacobs, der sehr umsichtig
dieses schwierige Terrain zugänglich macht. Anders als Kühn konzentriert
sich Jacobs auf Fichte in seiner Zeit; er versteht es, dem Leser nicht
nur die Plausibilität der "Wissenschaftslehren" vor Augen zu führen,
sondern behutsam die philosophischen Sprachen des 19. Jahrhunderts zu
übersetzen.
Kurzum, wer den "ganzen Fichte" haben möchte, dem stehen im
Jubiläumsjahr ebenso anregende wie herausfordernde Lektüren ins Haus.
Johann Gottlieb Fichte, daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen, ist
in unserer Öffentlichkeit noch gar nicht angekommen. Wir dürfen gespannt
sein, wie man mit seiner "Lehre" umgeht.
Nota.
Ich für mein' Teil empfehle Ihnen, Fichte nicht nur "für einen Moment" ernstzunehmen. Ich bin der Auffassung, die Transzendentalphilosophie, die von Fichte, bevor er von ihr abfiel, auf den Punkt gebracht wurde, ihre kritische Aufgabe gerade in ihrem Hauptstück, nämlich der Anthropologie, noch gar nicht abgeschlossen hat; und dass sie im Allgemeinen ihrer Natur nach gar nicht abgeschlossen werden kann.
Dass dies eine besondere Auffassung der Fichte'schen Philosophie voraussetzt, versteht sich von allein.
JE